Andreas Müller: Der Olympia-Radprofi im Interview

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Karriere-Highlight und Karriere-Ende in einem: Im Alter von 41 Jahren hat der Bahnradfahrer Andreas Müller Österreich bei den Olympischen Spielen in Tokio vertreten. Im Interview erzählt er, wie Corona dem österreichischen Team in die Karten gespielt hat, warum er eine militärische Ausbildung hat und was er in der Radpension plant.

Wie geht’s dir jetzt nach Olympia?

Andreas Müller Gut. Ich bin ein bisschen müde, aber glücklich.  

Bist du zufrieden mit deiner Leistung?

Mein Kollege Andreas Graf und ich wollten im Madison-Bewerb Achte werden und haben letztlich den zwölften Platz gemacht. Sportlich bin ich also nicht zufrieden, aber es hätte auch schlechter sein können, und bei mir überwiegt die Freude darüber, dass Olympia wirklich stattgefunden hat und ich auch starten durfte. Wenn jemand aus meinem Team kurz vor dem Rennen positiv auf Corona getestet worden wäre, wären drei Jahre Vorbereitung umsonst gewesen. 

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Wie ist das, wenn man auf ein Ziel hintrainiert und nicht weiß, ob das Rennen überhaupt stattfindet?

Schwierig. Für viele jüngere Sportler*innen noch mehr als für mich, ich habe in meiner Karriere schon einige Wettkämpfe und Highlights gehabt und weiß, dass die Welt nicht untergeht, wenn ein Rennen doch nicht stattfindet.

Wie weit kann die zusätzliche Herausforderung, dass man mit dieser Situation umgehen muss, den Ausgang eines Rennens beeinflussen?

Für uns als kleinere Nation ist das sicher ein Vorteil. Die größeren Nationen können dank ihrer riesigen Manpower sowohl bei den Sportler*innen als auch beim Personal sonst alles durchplanen, während wir schon immer flexibel und individuell reagieren mussten. So komisch das klingt, dieser Faktor hat uns auf alle Fälle in die Karten gespielt. Das hat sicher auch beim Sieg von Anna Kiesenhofer mitgespielt. 

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Was braucht man generell, um bei Olympia erfolgreich zu sein? 

Das Wichtigste ist, dass man physisch fit ist, aber das alleine reicht nicht. Man braucht absolute Fokussierung. Trainieren kannst du nur drei bis sechs Stunden am Tag, aber du musst auch dein ganzes restliches Leben dem Sport unterordnen, von deinen Schlafenszeiten bis hin zur Frage, was du isst und wann. Solche Einschnitte nimmst du nur in Kauf, wenn die Leidenschaft da ist. Und der dritte Punkt ist Glück – das macht den Reiz des Sports auch aus, ohne diesen Faktor wäre es langweilig, dann wüsste man ja schon vorab, wer gewinnt. Die Zuschauer*innen wollen Überraschungssieger*innen wie Anna Kiesenhofer sehen, aber sie wollen auch Menschen sehen, die scheitern. 

Wie ist Olympia? Wie läuft das ab?

Es ist gigantisch groß. Wenn man sonst einen Radsport-Event organisiert, ist man schon froh, wenn man drei Leute zum Helfen auftreiben kann. Was bei Olympia logistisch und organisatorisch in Bewegung gesetzt wird, ist beeindruckend. Die Freiwilligen stehen in scheinbar unbegrenzter Zahl zu Verfügung, sie sorgen nicht nur für Sicherheit auf der Straße, sondern nehmen dir alles ab – nach dem Essen servieren sie dein Tablett ab, bevor du es selbst zurücktragen kannst. Toll war auch der Mix aus unterschiedlichen Sportarten, sonst bleibt man im Radsport ja eher unter sich. 

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Wie ist die Stimmung unter den Radsportler*innen?

Nicht anders als bei normalen Rennen. Man plaudert, manche kenne ich schon über 20 Jahre, da entstehen Beziehungen und gemeinsame Erinnerungen. Das ist wie ein Wanderzirkus – wir treffen uns immer wieder, an unterschiedlichen Orten der Welt. Nach meinem letzten Rennen in Tokio hat mir ein Trainer, der mich sehr lange kennt, gratuliert und gesagt: „Das war eine tolle Karriere“. Für mich war es ein sehr emotionaler Moment, so ein Lob von einem Experten zu bekommen. 

Die meisten Radfahrer*innen waren noch nie auf einer Radbahn unterwegs. Was unterscheidet das Radeln auf der Bahn vom Fahren auf der Straße?

Indoorbahnen sind fast immer aus Holz und daher sehr glatt, man muss also mindestens 30 km/h fahren, um nicht abzurutschen. Je tiefer unten man fährt, desto stärker spürt man die Fliehkräfte. Bequem ist es nicht, es drückt den Körper ordentlich in den Sattel rein, man braucht viel Körperspannung und muss das Rad richtig festhalten. Und weil man immer in die selbe Richtung fährt, bewegt sich das linke Bein in einem anderen Tempo als das rechte. 

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Und wie unterscheiden sich die Rennen?

Bahnradsport ist die schnelle, dynamische Schwester des Straßenradsports. Die Rennen sind deutlich kürzer, jede Sekunde entscheidet über Sieg und Niederlage. Es ist eine sehr taktisch-technische Disziplin – das ist in meinem Alter gut, weil man die nachlassende Leistungsfähigkeit des Körpers mit Erfahrung kompensieren kann.

Wie viel wiegen die Räder? Da ist ja nichts dran, was nicht dran sein muss.

Ja, richtig, keine Bremsen, keine Gangschaltung – dadurch ist die Verbindung zwischen Fahrer und Fahrrad viel direkter, was für mich den speziellen Reiz ausmacht. In der Theorie könnte ein Bahnrad problemlos nur vier Kilo wiegen, aber der Internationale Radsport-Verband gibt für Wettbewerbe ein Mindestgewicht von 6,8 Kilo vor.

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Eine der Disziplinen, in denen du bei Olympia angetreten bist, heißt Madison. Was ist das?

Auf Deutsch würde es Zweier-Mannschaftsfahren heißen. „Madison“ ist die internationale Bezeichnung, weil das erste Rennen im Madison Square Park in New York stattgefunden hat. Das Rennen geht über 50 Kilometer, das sind 200 Runden auf der Bahn, und dauert knapp eine Stunde. Zwei Fahrer*innen bilden ein Team und wechseln sich ab. Alle zehn Runden gibt es Punkte für die Platzierung beim Erreichen der Ziellinie, und wer am Schluss am meisten Punkte gesammelt hat, hat gewonnen. 

Was macht die Person im Zweierteam, die gerade nicht dran ist?

Man fährt langsamer und versucht, Luft zu bekommen. Wenn man im Rennen ist, fährt man im Schnitt 60 km/h. 

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Wie gefährlich ist das Bahnradfahren? 

Es ist kein ungefährlicher Sport. Bei Profi-Rennen fährt man nur Millimeter entfernt aneinander vorbei, wenn da jemand einen Schlenker macht, geht sich das schon von der Reaktionszeit her nicht aus. Man hat also auch Verantwortung für den Partner oder die Partnerin, die Gegner*innen und das Feld. 

Wie bist du eigentlich auf die „schiefe Bahn“ gekommen?

Mit 14 Jahren bin ich das erste Mal auf einer Bahn gefahren. Da bin ich genau eine Runde weit gekommen und dann weggerutscht. Aber am Ende war es der Sport, den ich am besten konnte, und ich bin hängengeblieben. 

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Du bist Berliner, wieso fährst du für Österreich?

Ich war fast zehn Jahre lang in der deutschen Nationalmannschaft, war dann aber nicht mehr so glücklich dort. Der Bahnradsport lebt von staatlichen Förderungen, da gibt es de facto nur Nationalmannschaften, keine Teams. Da bot sich Österreich an. 2008 habe ich über den Sport die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. 

Was hat dich in Deutschland gestört?

Ich war dort über die Sportförderung bei der Bundeswehr angestellt, und dort war es mir zu hierarchisch. Es ist außerdem eine Lose-Lose-Situation: Die Heeressportler*innen sind am Papier Soldat*innen, bekommen die komplette Ausrüstung und müssen, egal wie widerwillig, die Grundausbildung machen, halten aber im Grunde nur die echten Soldat*innen von ihrer Arbeit ab – selbst die Ausbilder*innen wussten, dass wir das, was sie uns beibringen, nie anwenden werden. Ich wüsste zumindest nicht, wofür man einen Radfahrer beim Militär gebrauchen könnte. 

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Was ist für dich die Faszination am Radfahren?

Es ist für mich die perfekte Art der Fortbewegung. Du siehst viel, kannst jederzeit überall anhalten und kommst in fremden Ländern gut mit anderen Leuten ins Gespräch, weil du keinen Blechmantel um dich rum hast. 

Wie hast du es geschafft, die Profisport-Karriere mit deinem Privatleben zu vereinbaren?

Familie, Partner*innen und Freund*innen müssen schon viel Verständnis haben, die müssen emotional und zeitlich oft zurückstecken. Ich habe keine Kinder, das hat indirekt vielleicht auch mit dem Sport zu tun – ich war immer viel unterwegs, und es wäre schwierig gewesen, da noch ein Kind unterzubringen. Auch für eine Beziehung ist es eine große Herausforderung, nicht umsonst haben die meisten Radsportler*innen Partner*innen, die ihre Leidenschaft teilen. Als ich vor einem Jahr meine aktuelle Partnerin kennengelernt habe, wusste ich schon, dass ich ihr klar vermitteln muss, was ich mache und was das bedeutet. Es war aber leichter, weil ich schon wusste, dass ich nach Olympia in Radpension gehe. Der Körper hält mehr aus, als man denkt, aber irgendwann hat man keine Lust mehr, täglich zu trainieren. 

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Wie geht es jetzt für dich weiter?

Um meine berufliche Zukunft mache ich mir keine Sorgen, ich kann mir vieles vorstellen und bin durch mein großes Netzwerk in einer privilegierten Situation. Aber jetzt werde ich erst einmal eine Pause von unbegrenzter Länge machen, in der ich mir bewusst nichts vornehme. Ich freue mich sehr darauf, keine festen Termine und Verpflichtungen zu haben, einfach mal die Seele baumeln zu lassen und in mich reinzuhören, worauf ich Lust habe.


Interview: Ines Ingerle, Klaus Brixler, Magdalena Jöchler

Zu lesen im aktuellen Drahtesel (02/21), entstanden in Kooperation mit dem Podcast Reich durch Radeln 

Fotos: Martin Granadia, Drew Kaplan