Nachbericht: Gipfel zum Lkw Abbiegeassistenten

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Das Bewegen von sehr großen und schweren Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr ist eine Herausforderung für die Person am Lenkrad. In Städten geht damit ein erhebliches Sicherheitsrisiko für andere VerkehrsteilnehmerInnen aus, insbesondere für ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer. Die Radlobby fordert seit 2016 Maßnahmen in allen fünf Handlungsfeldern rund um den Risikofaktor Lkw: Kreuzungsgestaltung, Bewusstseinsbildung, gesetzliche Änderungen, Fahrerausbildung und die bessere sicherheitstechnische Ausstattung der Lastkraftwagen.

An schweren Lkw sind seit 2009 sechs Spiegel verpflichtend vorgeschrieben. Seit damals muss der Bereich unmittelbar rund um die Fahrzeugfront und die rechte Fahrzeugseite mit korrekt eingestellten Spiegeln einsehbar sein. Schwere Lkw sind jedoch immer noch in Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern in Städten verwickelt. Dabei spielt die um 0,7 s längere Reaktionszeit (Direktsicht vs. Spiegel) sowie die zunehmende Überforderung von Lkw-LenkerInnen eine Rolle. Aus mehreren Gründen braucht es daher aktive Assistenzsysteme, die vor einer Kollision warnen und ggf. auch eine Notbremsung einleiten, wenn diese nicht von der Person am Steuer veranlasst wird. (Twitter-Thread)

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Verpflichtende Sichtfelder an schweren Lkw in der EU, Stillbild aus einem MAN Herstellervideo zum Abbiegeassistenten

Nach einer Unfallserie über mehrere Jahre hinweg wurde im Jänner 2019 die Petition "Leben retten im toten Winkel" von Eltern und Angestellten gestartet, die auch von der Radlobby Österreich unterstützt wird. Innerhalb von wenigen Tagen sprachen zehntausende Menschen ihre Unterstützung auf der Petitionsplattform aus. Stand heute sind 73.000 Unterschriften eingelagt, bitte weiterhin unterstützen: bit.ly/abbiegeassistent

Verkehrsminister Hofer berief einen "Sicherheitsgipfel Lkw" für den 19. Februar ein, zu dem etwa 40 Stakeholder kamen. Das frontale Setting (Podium, Publikum) vermittelte uns den Eindruck einer Pressekonferenz. Wir distanzieren uns von einer in der Öffentlichkeit getroffenen Darstellung des Ministers, beim Gipfel hätte es eine "Einigung" irgendeiner Art gegeben. Vielmehr war es unserem Eindruck nach eine "Anhörung" anwesender Vertreterinnen, paralell zu Abstimmungen mit der Fahrzeugindustrie. Im folgenden veröffentlichen wir ein Gedankenprotokoll einiger Äußerungen vor Ort:

Norbert Hofer begrüßt die Anwesenden und erklärt, man sei wegen des toten Winkels hier.  Die Petition sei eine postive Ausgangslage, das Thema bereite Sorgen und gleichzeitig sei es schwer und ungerecht, Schuldige zu finden, denn „niemand überfährt absichtlich andere“. Wir würden später noch hören, welche logistischen, verfassungsrechtlichen Probleme, Kosten und Zeitbedarf es zur Umsetzung von Abbiegeassistenten gibt.

Keine Datenbank zur Ausstattung der Lkw mit Abbiegeassistenten?

Johannes Horvatits vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (Bmvit) präsentiert die Unfallzahlen, erwähnt das Verkehrssicherheitsprogramm bis 2020, dort sind „Anreizsysteme für Lkw“ enthalten. Unter anderem wird „die Nachrüstung mit Weitwinkelspiegeln, die Ausstattung mit modernen Kontroll- und Assistenzsystemen“ empfohlen (Österreichisches Verkehrssicherheitsprogramm 2011 bis 2020, S. 91) Er zeigt eine Grafik, die deutlich macht, dass beim Projekt „Rundum Sicht“ die Anzahl der Warnungen zurück geht. Auffällig sei, dass es im Sommer viel mehr Warnungen gäbe als im Winter - das würde gerade weiter beforscht.

Sprecher der Radlobby, Roland Romano fragt nach, ob das Bmvit Aufzeichnungen führt, welcher Anteil an Lastkraftwagen Abbiege-Assistenten hat und wie sich diese Lkw bei den Unfällen verhalten. Diese Frage wird im Laufe des Gipfels leider nicht beantwortet. Auch die zweite Frage, wie weit die Anreizsysteme für "Tote-Winkel-Assistenten" laut Verkehrssicherheitsprogramm 2011-2020 fortgeschritten sind, bleibt unbeantwortet.

Die Gewerkschaft vida macht klar, man müsse auf die Arbeitsbedingungen achten, nicht ausschließlich auf die Technologie, wenngleich die verpflichtende Nachrüstung von Abbiegeassistenten helfen würde.

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Die indirekte Sicht über vier der sechs Spiegel an einem schweren Lkw

Verbindlichkeit eingefordert

Viele der anwesenden Experten fordern Verbindlichkeiten ein, weisen auf die Wichtigkeit der Abbiegieassistenten hin. Andere schlagen Begleitmaßnahmen vor.

Markus Raab, Abteilungsleiter der MA 46 (Verkehrsorganisation): „Wenn wir in Wien keine Lkw-unfälle hätte, wären die Zahlen der Toten einstellig“. Beim Lkw-Gipfel in Wien im Jahr 2016 wurden 220 Haltelinien an Kreuzungen verlegt und 247 Schulwegpläne überarbeitet. Die Stadt will unsichere Lkw beschränken und wünscht sich ein Werkzeug dafür, also ein Rechtsmittel im Kraftfahrzeuggesetz (KFG) oder der Straßenverkehrsordnung (StVO), um Fahrzeuge für das Stadtgebiet ähnlich der Euro-Abgasnorm verbieten zu können, wenn diese keinerlei Abbiege-Assistenten aufweisen.

Alexander Klacska von WKO: Die Infrastruktur sei nicht mitgewachsen, es brauche Spiegeleinstellplätze zur richtigen Spiegeleinstellung. Ausländische Lkw würden ein besonderes Problem darstellen, er machen auch gerne Schulungen an Schulen mit Kindern.

Markus Gansterer, VCÖ: Es brauche bessere Infrastruktur und einen kindgerechten Verkehr, man müsse die Spiegel richtig einstellen. „Kinder können nicht die Verantwortung für Leben oder Tod tragen“. Sein Vorschlag: Das Parkplatzverbot vor Schutzwegen sofort von 5m auf 10m verlängern. In der Unfallstatistik muss man nicht nur tödliche Unfälle, sondern auch Schwerverletzte beachten. Spezifische Unfallzahlen im nicht motorisierten Verkehr stagnierten während es im Kfz-Bereich sinkende Werte gäbe. In der EU soll Österreich die Fristen zur strengeren Regelung rund um sicherere Lkw-Bauformen verkürzen. Eine Möglichkeit von Verboten (siehe Stadt Wien) sollte geschaffen werden. Es brauche eine verbindliche Abbiegeassistent-Nachrüstung.

Sylvia Leodolter von der AK Österreich meint, es brauche eine Gesamtbetrachtung und intensivere Lkw-Kontrollen hinsichtlich Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten. Österreich könnte sich als Vorreiter positionieren, daher brauche es eine verbindliche Abbiegeassistent-Nachrüstung im KFG. 

Maria Vassilakou, Stadt Wien: Auf die Schwächen des Lkw-Verkehrs und der Infrastruktur muss man reagieren, bei Schwerverletzten seien oft Lkw beteiligt. Die Zahl der Lkw in Wien nehme bisher exponentiell zu. Wien investiert 1 Million in die Nachrüstung von Abbiegeassistenten und wünscht sich dasselbe Engagement auch vom Bund. StVO/Verordnungsermächtigungen sollen ermöglichen, dass unsichere Lkw ohne Abbiegeassistent verboten werden können. Das würde auch Lohndumping erschweren, da die dort eingesetzten Fahrzeuge bisher meist keine Assistenten haben.

Franz Weinberger, Nutzfahrzeugimporteure: Die Nachrüstbereitschaft in der Wirtschaft ist hoch, BMVIT sollte beim Nachrüsten mithelfen und diesen „Schwung“ weitertragen, weitere Entwicklungsarbeit von Abbiegeassistenten sei notwendig.

Rober Kastner, Berufslenker-Vereiniung UICR: Ein ausrangierter Lkw soll in Verkehrskindergarten im Prater stehen, dazu sollen Filme über das Problem informieren. Zur Erhöhung der Sicherheit sollte die Beifahrerverpflichtung kommen, das kostet maximal 1 ct pro transportierter Tonne.

 EU-weit vorgeschriebene Sichtfelder an schweren Lkw

EU-weit vorgeschriebene Sichtfelder an schweren Lkw

Verbindlichkeit abgewendet

Norbert Hofer wendet die Verbindlichkeit ab, vertröstet auf "nach 2024" und denkt an Alternativen : Die EU entscheidet 2022 für 2024, davor könne man nichts machen, sonst gäbe es rechtliche Probleme. Eine Nachrüstung von Abbiege-Assistenten zum jetzigen Zeitpunkt bezeichnet er "als Übergangslösung, die danach womöglich erneut geändert werden muss“. Er will Lkw-Spiegeleinstellplätze bei Asfinag-Rastplätzen „massiv ausbauen“ (derzeit gibt es solche nach Radlobby-Recherche erst an zwei der ca. 150 Rast- bzw. Abstellplätzen).
Statt die bauartbedingten Sichtprobleme am Lkw direkt zu lösen sollen "an gewissen Kreuzungen" gewölbte Spiegel aufgestellt werden. Hofer wolle Kreuzungen mit Abbiege-Gefahr entschärfen – wie genau, das sagt er nicht. Auch möchte er Rechtsabbiegen für Lkw an "unsicheren Kreuzungen" verbieten lassen und nach 2024 „Anreize zum Nachrüsten von Abbiegeassistenten“ setzen. Er wolle Kinder-Schulungen mit dem BMI veranstalten, 5 Mio Euro gibt es jährlich für Weiterbildungsmaßnahmen bereits jetzt schon. E-Scooter sollen in Zukunft wie Fahrräder behandelt werden, das Ministerium arbeite an einer Regelung.

Viele für Nachrüstung 

Weitere Stimmen für Nachrüstungen an Lkw werden laut: 

Schwer, Städtebund: Innsbruck testet derzeit den Abbiegeassistenten, mit guten Zwischenergebnissen. Auch am Verhalten pro Verkehrsmittel muss sich etwas ändern. Sie ist ist beim Trixi-Spiegel skeptisch, der verstellt die Kreuzung zusätzlich. Man sollte in der Genehmigungsdatenbank vermerken müssen, ob ein Abbiegeassistent verbaut ist oder nicht.

Gemeindebund: wichtig ist die Tempoeinhaltung, Tempo erzeugt „toten Schatten“, Gemeinden sollten Tempi kontrollieren dürfen.

Klaus Robatsch, KfV: Es gibt seit 2012 über 400 getötete Menschen bei Lkw-Unfällen. KfV spricht sich für die Nachrüstung von Abbiegeassistenten aus. Die Trixi-Spiegel-Studie hat bereits 2003 gezeigt, dass sie nicht so wirksam sind.

Vassilakou: Stadt ist dabei, Mängel an der Infrastruktur zu beheben, wünscht sich gesetzliche Unsichere-Lkw-Verbotmöglichkeit

Hayos-Trautmannsdorf (NEOS): Ein Fleckerteppich von Maßnahmen ist notwendig, keine Einzelmaßnahme. Förderung von Abbiegesystemen sollte früher als 2022 kommen. 

Kast, BMVIT: Bremst zum Thema Abbiegeassistentverpflichtung, sieht Spielraum für Verordnungsermächtigungen. Zur Verankerung im KFG gibt es EU-Vorgaben, er sehe das eher kritisch. Die Verankerung in der StVO gehe nach eher generellen Kriterien. Er kann sich vorstellen, den Städten einzuräumen, Verordnungsermächtigungen zu erlassen, um unsichere Lkw zu verbieten.

Falsche Behauptung 

Nach dem Gipfel behauptet Norbert Hofer, es hätte sich nur eine einzige Person im Raum für das Hauptanliegen der Petition, die verpflichtende Nachrüstung von Abbiegeassistenten, ausgesprochen. Bereits vor dem Gipfel fand die Forderung jedoch breite Unterstützung in der Zivilgesellschaft und den im Verkehr aktiven Organisationen! Zusätzlich gab es die oben geschilderten Wortmeldungen. Um diese Behauptung richtigzustellen haben einige der beim Gipfel anwesenden Akteure in einem Twitter-Video ihre Forderung nach verpflichtenden Abbiegeassistenten bestärkt. 

Lösungen müssen schnell her 

Ulrich Leth als Vertreter der Petition "Leben retten im toten Winkel" sprach klare Worte beim Gipfel:  "Der Abbiege-Assistent sollte verpflichtend kommen, er wirkt flächendeckend. Das schafft 40 % Reduktion von Unfallzahlen, wenn man das nicht einführt werden diese Unfälle in Kauf genommen". Es gehe um den Schutz für Kinder. "Unfälle liegen in Ihrer Verantwortung, das technische Stadium ist ausreichend und eine Verpflichtung nicht etwas schwerig, das muss man lösen. Die Leute wollen die Abbiegeassistenten haben. Sie wollen nicht von Ihnen wissen, warum es nicht geht. Lokale Maßnahmen können das Bauartproblem nicht beheben. Es braucht flächendeckend mehr Sicherheit, daher braucht es auch Beschränkungen für unsichere Lkw".

Markus Gansterer vom VCÖ verstärkt: „Es braucht einen Fahrplan für verpflichtende Nachrüstung".
Auch Vida ist einer Meinung: "Mit Direktsicht-Kabinen ist die Reaktion um 0,7 Sekunden schneller. Außerdem braucht es Assistenten. Wenn das nicht kommt muss man eine Beifahrerpflicht einführen."

Lösungen vorhanden

Mobileye stattet Lkw mit Nachrüstsystemen aus. Dabei wird ein Schwerfahrzeug mit Kameras und intelligenter Software ausgestattet, welche den vermeintlichen toten Winkel ausleuchten. Man kann auch ohne Unfall die Warnungen analysieren und darauf basierend HotSpots in der Stadt ausmachen, das lässt sich beispielsweise super mit Müllfahrzeugen erheben. In diesem Video wird es gut erklärt: HIER ansehen. 

Nationalrat

Im Nationalrat war das Thema Sicherheit von Lkw auch Gegenstand der Sitzung am 27. Februar. Der Initator der Petition hat die Rede des Verkehrsministers analysiert und sie mit Fakten verglichen: Hier online: 

Radlobby Resümee 

Die Bilanz nach dem Sicherheitsgipfel ist mager. Obwohl viele Akteure die Nachrüstung von Abbiegeassistenten unterstützen ist sie derzeit weder auf EU-Ebene noch vom Verkehrsministerium geplant. Das macht weitere schwere Lkw-Unfälle wahrscheinlich und hindert Österreich am Erreichen der gesteckten Verkehrssicherheitsziele; die Zwischenziele wurden bereits verfehlt.

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Die Radlobby Österreich spricht sich als anfängliche Unterstützerin der Petition "Leben retten im toten Winkel" auch weiterhin für die Kernforderungen wie die verpflichtende Nachrüstung mit Notbrems-Abbiegesystemen aus. Bereits 2016 machten wir fünf Handlungsfeldern rund um den Risikofaktor Lkw ausfindig, darunter Kreuzungsgestaltung, Bewusstseinsbildung, gesetzliche Änderungen, Fahrerausbildung und die bessere sicherheitstechnische Ausstattung von Lastkraftwagen. "Eine gute Kreuzung bzw. ein guter Radweg haben den Sicherheitsabstand schon eingebaut" bringt es Radlobby-Sprecher Roland Romano auf den Punkt.